Günter hat geschrieben:Wir hatten beide mit Karneval nicht viel am Hut. Nun warf man uns aber die Süßigkeiten vor die Füße. Und unabhängig voneinander griffen wir zu. Zuhause kamen wir mit gemischten Gefühlen an. Wir verglichen unsere Beute. Wir waren aber auch überrascht, wie man Menschen zum Zugreifen verleiten konnte, indem man ihnen Zuckerstückchen vor die Füße wirft.
Zu dem Thema habe ich eine aktuelle Off-Topic-Geschichte zu berichten: Auch ich gebürtiger Dortmunder bin jetzt nicht so sehr stark dem Karneval verbunden. Und meine Frau, die eigentlich im Rheinland groß geworden ist, hat daran kein wirkliches Interesse mehr. Sie war in ihrer Jugend lange Zeit im Karnevalsverein in einer Mädchentanzgruppe. Das hat ihr gereicht, so sagt sie. Deshalb geht bei uns die Tendenz eigentlich eher zum "Flüchten" vor dem Karneval.
Aber man muss auch immer bedenken, dass es in vielen Situationen um Menschlichkeit geht, wenn man Leuten eine Freude bereitet, indem man sich nicht komplett verschließt und zurück zieht. Es begab sich so:
Nachdem Christel und ich schon am Samstag abends - in lustiger Verkleidung - im Nachbardorf bei meiner Schwägerin waren (sie hat einen pflegebedürftigen Ehemann zu Hause, Pflegestufe 3) und ich dort anlässlich des Karnevals eine Feuerzangenbowle zubereitet hatte, brachte ich zu Hause am folgenden Morgen den Müll nach draußen. Ich traf meinen lieben Nachbarn Joachim, der mich fragte, ob wir denn gleich auch nach draußen kommen würde, wenn "der Zug" kommt. Ach ja... Da war ja etwas... Das hatte ich schon wieder ganz vergessen... Wir wohnen jetzt zwei Jahre hier. Letztes Jahr waren wir zum Karneval nicht draußen. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass es einen Umzug geben würde. Wie dem auch sei... Obwohl mir das ja tendenziell nicht so wichtig ist, habe ich zugesagt, weil ich wusste, dass Joachim und seine Frau sich riesig darüber freuen würden. Also: Frühstück unterbrochen, schnell wieder die Sachen von gestern angezogen ("Special Police"-Mütze auf, lustige, bunte Fliege unter den Kragen, witzige Brille auf und meine roten Hosenträger angezogen). Christel in ähnlichem Outfit. Und was soll ich sagen...
"Der Zug" kam. Und wir gingen raus. Und obwohl wir eigentlich nur sehr selten und wenig Alkohol trinken, habe ich auch einen Schnaps mit meinen Nachbarn getrunken. Sie haben sich gefreut wie kleine Kinder an Weihnachten. Ihre Augen strahlten sogar. Wir leben wie gesagt in einem sehr kleinen Dorf. 250 Einwohner. Der Umzug blieb vor JEDEM Haus stehen, vor dem die Bewohner standen. Wir wurden mit Süßigkeiten und Leckereien nur so überhäuft. Die ganze Einfahrt war voll davon. Wir hätten das mit dem Besen zusammenfegen können, so viel war das. Unsere Schale, die wir mit nach draußen genommen hatten, war im nullkommanix voll. Mein lieber Nachbar gab mir dann noch einen Stofftragetasche, damit wir den Rest einsammeln konnten. Das reicht bestimmt für die nächsten 6 bis 8 Wochen...
Natürlich haben wir uns gebückt und alles eingesammelt. Und nicht weil es umsonst war. Sondern weil es Tradition ist. Und noch viel mehr, um die Leute, die so viel Aufwand betreiben, nicht zu enttäuschen. Stell Dir vor, die Aktivisten werfen und werfen und die Leute stehen nur da und lassen das alles liegen. Das wäre doch sehr unhöflich und die Karnevalsaktivsten wären sicher enttäuscht und traurig. So etwas tut man nicht. Jedenfalls hatten wir hinterher so viele Süßigkeiten und Knabbereien zugeworfen bekommen, dass das den Warenwert von 10 EUR, die wir ein paar Wochen zuvor gespendet hatten, als der Karnevalsverein zum Sammeln durchs Dorf zog, deutlich überstieg.
Als der letzte Wagen kam, passierte noch einmal etwas, was ich sehr bemerkenswert fand: Der Ortsvorsteher unseres wirklich kleinen Dorfes nahm Notiz davon, dass WIR vor dem Haus standen. Er zeigte erst auf uns beide und dann auf die Hausnummer der Haushälfte, die wir bewohnen. Er gestikulierte mir quasi die Frage, ob wir die Bewohner des Hauses seien. Ich nickte. Er hielt mit einer Hand seinen Daumen nach oben uns winkte mich zu sich an den Wagen heran. Er gab mir persönlich die Hand, reichte mir einen Schnaps und wir tranken gemeinsam einen. Das fand ich alles irgendwie sehr rührend. Als jemand, der mit Karneval doch eigentlich gar nichts am Hut hat.
Nachdem der Umzug vorbei war, fragten unsere wirklich sehr lieben Nachbarn, ob wir denn nicht zum Mittag noch zum Festplatz kommen würden. Eigentlich hatten wir dazu ja nicht wirklich Lust. Zumal meine Frau zuvor die ganze Woche von Montag bis Freitag auf Dienstreise war und eigentlich auch froh, endlich wieder zu Hause zu sein und die Füße auf die Couch legen zu können. Doch Christel lenkte ein und sagte: Wir frühstücken jetzt gleich zu Ende, ich schmeiße noch schnell die Waschmaschine an und dann kommen wir auf ein Kölsch herüber. So machten wir es. Dass wir zustimmten, lag vor allem daran, dass wir nicht wirklich dazu gedrängt wurden oder gar Entrüstung vernehmbar war, dass wir eigentlich nicht hingehen wollten. Es war vielmehr diese Herzlichkeit und dieses Gefühl, von seinen Nachbarn wirklich sehr gemocht zu werden, als sie sagten: "Kommt doch wenigstens für ein Stündchen, wir würden uns freuen!".
Als wir da waren und ich ein paar Wertmarken für den Verzehr vor Ort erwarb (wobei ich noch einmal etwas Wechselgeld spendete), kam kurz darauf noch einmal unser Ortsvorsteher zu uns stellte sich persönlich mit Namen vor. Das fand ich echt sehr nett. Es machte regelrecht den Anschein, als wenn ER derjenige war, der sich geehrte fühlte, dass WIR als Zugezogene dort auf der Feier waren. Dabei fühlten wir uns mindestens genau so. Er gab uns zu verstehen, dass wir IMMER willkommen sind und dass im Fall der Fälle auch alle anderen im Dorf für einen da sind, wenn einmal etwas nicht ganz rund läuft. Wir sahen diverse lustige Tanzvorführungen älterer, kostümierter Herren und junger Mädchen. Tranken mit den Nachbarn noch ein paar Kölsch und Schnäpse. Und nein, ich habe mich nicht "besoffen". Man muss so etwas ja nicht übertreiben. Als wir gehen wollten, richtete sich der Blick meiner Frau auf den aufgestellten Imbisswagen. "Da brauchen wir doch heute gar kein Mittagessen mehr zu machen", meinte sie. Und so war es. Endlich wieder einmal eine klassische Bratwurst mit Senf im Brötchen, dachte ich... Das war lecker. Christel hatte mehr Hunger und aß ein Schnitzel mit Pommes Frittes. Unsere Nachbarn gesellten sich da wieder zu uns und sie aßen mit uns gemeinsam.
Wir haben das alles in Maßen sehr genossen. Um etwa 15 Uhr sind wir dann nach Hause gegangen. Nicht torkelnd, versteht sich. Viele Leute, darunter gefühlt mehr als die Hälfte solche, die wir zu vor noch nie gesehen hatten, verabschiedeten sich winkend und lächelnd von uns. Sie waren sehr fröhlich und riefen uns teilweise sogar hinterher: "Schön, dass Ihr da wart, wir haben uns sehr gefreut, bis zum nächsten Mal!". Niemand war bockig oder beleidigt, dass wir "jetzt schon" gehen würden.
Als wir uns zum Nachmittagsschlaf auf die Wohnzimmercouch begaben, wussten wir an diesem Wochenende wirklich alle, ALLES richtig gemacht zu haben. Und es fühlte sich gut an.
Ich bin nach wie vor kein echter Karnevalsjeck und werde das wohl auch nie werden. Aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass das nicht schön war, mit den ganzen Leuten aus dem Dorf am Gemeindehaus. Für einen Stadtmenschen für mich vielleicht auch ein bisschen spooky. Aber dennoch sehr schön. Die Leute mögen einen wirklich so gut wie alle, hat man den Eindruck.
Fazit: Wir gehen im nächsten Jahr wieder hin, wenn wir zu Hause sind...